, Wernfried Hübschmann

SCHNEE IM APRIL

Gedanken zum Ausklang des Schuljahrs 2019/2020. Mit Paul Celan gesprochen: ...Ja, es ist Zeit, dass der Unrast ein Herz schlägt. Es ist Zeit, dass der Schnee schmilzt, der mitten im Frühling auf die Herzen der Menschen gefallen ist.

Als wäre nachts ein Meter Schnee gefallen. 

Mitten im April. So still ist es morgens im Dorf. Kein Laut, nirgends. Eine Schneestille. Rückzug und Reduit, Social Distancing und Corona-Cocooning. Der Mehltau des Müßiggangs. Wir sind der Welt abhandengekommen. Und die Welt uns. Die Vögel schweigen. Die Menschen auch. Wo ist das Rotkehlchen, der Frühaufsteher? Ein paar Spatzen sind wach, ein Amselpärchen. Elstern räubern die verbliebenen Nester. Ihr heiserer Schrei schießt wie ein Pfeil durch die Luft. Am späten Vormittag dann, bei besserer Thermik, wird der Rotmilan seine Kreise über den Hügeln ziehen. 

 

War da was? 

Irgendein Virus … ein Wirus? Von welchem WIR ist hier die Rede? Welche VerWIRung befällt uns gerade? Wo stehen wir? Wie soll es weitergehen? Ohne Begegnungen im Außen begegnen wir uns selbst. Das ist nicht immer erfreulich. Niemand weiß, was „richtig“ ist. Wir fallen uns selbst ins Wort. Es geht darum, die Abwesenheit von Durchblick und Überblick erst einmal auszuhalten. Klaren Kopf zu behalten. Um zugleich Fragen zu stellen, viele Fragen. Auch, wenn keine eindeutigen Antworten aus den Bäumen fallen. Die Zahlen, Daten und Fakten sind verwirrend. Das Puzzle geht nicht auf. Immer fehlt irgendein Stückchen. News und Fake News, kaum zu unterscheiden. Die Wirklichkeit ist kein Kreuzworträtsel. Und das Angebot der Medien zum Abendbrot: Einmal Angst für alle.

 

Die Corona-Krise 

hat viele Aspekte: medizinische, ökonomische, soziale, ökologische, existenzielle, politische, kulturelle, spirituelle. Rückkehr zur Normalität? Eine Illusion! Alles möge so werden wie früher? Unmöglich! Wenn das überhaupt wünschenswert wäre? Vielleicht gehen wir in eine „neue Normalität“. Die sofort wieder in Frage stehen wird. Die Veränderung ist das Alltägliche geworden. Sie wird uns begleiten. Denn eines geht nicht mehr: so zu tun, als ginge uns das alles nichts an. 

 

Man meistert Krisen nicht, 

indem man sie leugnet. Sondern indem man sie annimmt, sie lange anschaut, verstehen lernt – und verwandelt. „Wo aber Gefahr ist, wächst / das Rettende auch“, lesen wir bei Friedrich Hölderlin (1750-1843). Wir sind alle herausgefordert, das Rettende, Stärkende zu suchen. Das WIR ist gefordert, auch an dieser Schule, die mehr ist als eine Schule. Sie ist ein sozialer Organismus Sie ist eine Verantwortungsgemeinschaft. Wenn Schmerz entsteht, spürt das der ganze Körper, sofort und unmittelbar. Der Philosoph Immanuel Kant (1724-1804) gibt uns in der „Kritik der praktischen Vernunft“ (1788, Kap. 34) folgenden Hinweis: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir. Ich sehe sie beide vor mir und verknüpfe sie mit dem Bewusstsein meiner Existenz.“

 

Der bestirnte Himmel 

über uns und das moralische Gesetz in uns. Eine gute Orientierung. Keineswegs nur für diejenigen, die nach bestandenen Prüfungen bald die Freie Waldorfschule Schopfheim verlassen werden. In welche Zukunft hinein? „Komm! Ins Offene, Freund!“, ruft uns Hölderlin entgegen. Bei der Suche nach dem eigenen Weg, dem Lebenslauf, können die pädagogischen und praktischen Impulse der Waldorfschule Grundlage und Richtschnur sein. Wie sollen wir uns in der Welt bewähren, wenn wir unseren geistigen Ort in ihr nicht kennen? 

 

Schon im Jahre 1784 schrieb Kant in einem berühmten Aufsatz: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“ Die Aufklärung ist diejenige geistesgeschichtliche Epoche (ca. 1720-1800), in der das Ich zum Selbst-Bewusstsein und zum freien Denken erwacht, zur Freiheit „durchbricht“. Die „Leitung eines Anderen“ fällt nun weg. Nun müssen wir uns ein Herz fassen und uns selbst an die Hand nehmen. Es ist Zeit zum Aufbruch.

 

Von Paul Celan (1920-1970), dem jüdischen Dichter deutscher Sprache, dessen fünfzigster Todestag uns in diesen Tagen nachdenkend und vorlesend macht, gibt es ein frühes Gedicht mit dem Titel „Corona“. Es steht in dem Band „Mohn und Gedächtnis“, erschienen 1952. Die Schlusszeilen des Gedichts lauten:

Es ist Zeit, dass der Stein sich zu blühen bequemt,

dass der Unrast ein Herz schlägt.

Es ist Zeit, dass es Zeit wird.

 

Es ist Zeit.

 

Ja, es ist Zeit, dass der Unrast ein Herz schlägt. Es ist Zeit, dass der Schnee schmilzt, der mitten im Frühling auf die Herzen der Menschen gefallen ist.

 

Wernfried Hübschmann, Schülervater

 

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